Krebs wirkt Jahrzehnte lang nach

Krebs hinterlässt tiefe Spuren in Körper und Seele. Noch Jahrzehnte nach der Krebsdiagnose leiden viele ehemalige Krebspatienten unter den Auswirkungen der bösartigen Tumorerkrankung.

Krebs ist mit einer Operation, Chemotherapie, Bestrahlung und anderen Krebstherapien erledigt. Das glauben viele. Ärzte, Familie, Freunde, Außenstehende. Und wer die magische Hürde von fünf Jahren nach der Krebsdiagnose ohne Rückfall überspringt, gilt rein medizinisch als geheilt. Dass sich der Krebs für viele nicht einfach abhaken lässt und weiterhin im Leben und Alltag der Betroffenen präsent ist, zeigte jetzt das Forscherteam um Dr. Mary Ann Burg von der University of Central Florida in Orlando. Sogar Jahrzehnte, nachdem die Krebspatienten geheilt waren, litten viele unter körperlichen und seelischen Blessuren aufgrund der Krebserkrankung und der Nebenwirkungen der Therapien. Die Ergebnisse könnten Ärzten helfen, individuelle Konzepte für die verschiedenen Probleme und Nöte der früheren Krebspatienten zu entwickeln, so die Forscher.

Angst vor dem Rückfall

Sie befragten 1514 ehemalige Krebspatienten zwischen 24 und 97 Jahren, welche die bösartige Tumorerkrankung zwei, fünf oder zehn Jahre überlebt hatten. Proportional waren mehr Frauen unter den Überlebenden. Die früheren Krebspatienten beantworteten einen Fragebogen der Amerikanischen Krebsgesellschaft nach den unerfüllten Bedürfnissen. Bestimmt wurde die Häufigkeit, mit der ein Problem benannt wurde, über alle Krebsarten und alle demografischen Gruppen von Überlebenden hinweg. Eine Frage lautete zum Beispiel: „Bitte nennen Sie uns Bedürfnisse, die Sie jetzt als ehemaliger Krebspatient haben, und die nicht zu Ihrer Zufriedenheit erfüllt sind.“

Frauen, die Brustkrebs überlebt hatten, gaben deutlich mehr unerfüllte Bedürfnisse an als alle anderen Überlebenden. Männer, vor allem jene nach Prostatakrebs, berichteten von persönlichen Kontrollprobleme an. Die Senioren dagegen hatten weniger unerfüllte Wünsche als jüngere ehemalige Krebspatienten.

Insgesamt sagten 38 Prozent der Überlebenden, sie litten unter körperlichen Einschränkungen. Vor allem Männer mit Prostatakrebs hatten Probleme mit der Sexualität oder Inkontinenz. 20 Prozent der Befragten berichteten, sie hätten aufgrund der Therapiekosten noch lange Zeit später finanzielle Schwierigkeiten gehabt.

Die Angst vor dem Rückfall nannten nahezu alle ehemaligen Krebspatienten – unabhängig davon, an welcher Krebsart sie erkrankt waren, und wie viele Jahre sie den Krebs schon überlebt hatten.

Krebs ist nicht erledigt

Krebspatienten erleben oft eine Art posttraumische Belastungsstörung, die mit unzähligen psychischen, neurologischen und physischen Problemen einhergeht. Und: Sie können sich sogar intensivieren, wenn man nach fünf Jahren als vom Krebs geheilt gilt.

Die Anzahl und die Art der unerfüllten Bedürfnisse waren nicht mit der Zeitdauer nach der Krebstherapie assoziiert. Das könnte für Ärzte aufschlussreich sein, die zwar von den unerfüllten Bedürfnissen ihrer Krebspatienten wissen, aber glauben, diese würden mit der Zeit nachlassen und dann ganz verschwinden. Dies ist aber offenbar nicht der Fall. Der Krebs ist vielleicht weg, aber der tiefe Einschnitt einer Krebsdiagnose und die Therapien wirken noch lange im Leben nach. Verwunderlich ist das eigentlich nicht.

Kontrolle weg, Lebensqualität eingebüßt

„Insgesamt fanden wir, dass die Überlebenden des Krebses oft von den nachhaltigen Problemen überrascht wurden, die sie nach der Krebstherapie erfuhren“, sagt Burg. „In der Folge der Krebserkrankung fühlten sich viele Patienten so, als ob sie die persönliche Kontrolle verloren und ihre Lebensqualität eingebüßt haben“, so Burg weiter. Und sie seien frustriert, dass diese Probleme nicht ausreichend von den Ärzten und dem Gesundheitssystem wahrgenommen würden.

Die öffentliche Wahrnehmung von Problemen der Krebspatienten müsse geschärft werden, fordert Burg. Ärzte müssten mit ihren Patienten ernsthaft und professionell über die Nebenwirkungen des Krebses und der Krebstherapien sprechen. Für Krebspatienten und deren Familien solle es medizinische Hilfe für die dauerhaften Herausforderungen auch nach der Krebstherapie geben, so Burg.

Immer mehr überleben den Krebs

Immer mehr Menschen überleben ihre Krebserkrankung für viele Jahre, die Sterblichkeit sinkt. Die Gründe sind unter anderem verbesserte Früherkennungsmethoden und Therapien. Während es den einen gut nach der Behandlung geht, erleiden andere dauerhafte Schäden an Körper und Seele. Sie können die Lebensqualität extrem beeinträchtigen – auch nach dem Meilenstein fürs Überleben, der bei fünf Jahren liegt. Für viele ist der Krebs nie vorbei.

Quelle: Mary Ann Burg, Gail Adorno, Ellen D. S. Lopez, Victoria Loerzel, Kevin Stein, Cara Wallace, and Dinghy Kristine B. Sharma: „Current unmet needs of cancer survivors: Analysis of open-ended responses to the American Cancer Society Study of Cancer Survivors II.“ CANCER; Published Online: January 12, 2015 (DOI: 10.1002/cncr.28951).

Ingrid Müller

Ingrid Müller hat Biologie und Chemie studiert, ist gelernte Journalistin, Buchautorin und schreibt für verschiedene Medien, unter anderem Focus Gesundheit. Sie ist Chefredakteurin des Gesundheitsportals Prostata Hilfe Deutschland, die sich an Männer mit Prostatakrebs richtet. Zudem entwickelt sie digitale Gesundheitsprojekte mit. Zwölf Jahre war sie Chefredakteurin des Gesundheitsportals netdoktor.de