Chemobrain – Krückstock fürs Gedächtnis

Nach einer Chemotherapie leiden viele Krebspatienten unter Gedächtnislücken: dem Chemobrain. Doch eine kognitive Verhaltenstherapie hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge.

Wie hieß der Nachbar nochmal? Wo habe ich den Hausschlüssel schon wieder hingelegt? Was wollte ich eigentlich gerade tun …? Solche Gedächtnisprobleme nach eine Chemotherapie sind bei Krebspatienten keine Seltenheit. Etwa die Hälfte aller Krebspatienten, die sich einer Chemotherapie unterzogen haben, leiden unter langfristigen Einbußen ihres Gedächtnisses. Sie können sich Inhalte eines Gesprächs nicht merken oder vergessen, was sie als nächstes tun wollten. Die Erinnerung lässt sie immer häufiger im Stich. „Chemobrain“ nennen Mediziner das.

Gedächtnis streikt nach Chemotherapie

Jetzt wiesen Forscher vom Pittsburgh Cancer Institute nach, dass eine kognitive Verhaltenstherapie, die über Videokonferenzen stattfindet, die langfristigen Gedächtnisprobleme aufgrund einer Chemotherapie verhindern kann. Die Verhaltenstherapie sei eine nicht-invasive Methode, um Krebspatienten beim Umgang mit den negativen Folgen einer Chemotherapie zu unterstützen. Denn: Auch wenn die Gedächtnisprobleme mild ausfallen, beeinträchtigen sie doch die Lebensqualität entscheidend. Das gelte vor allem für den Job, die Familie und das gesamte Sozialleben, so die Forscher.

MAAT – Gehhilfe fürs Gehirn

Das Forscherteam um Robert Ferguson entwickelte eine spezielle kognitive Verhaltenstherapie, das Gedächtnis- und Aufmerksamkeitstraining „Memory and Attention Adaptation Training“, kurz MAAT. Es hilft Krebspatienten nach einer Chemotherapie, ihre Aufmerksamkeit in bestimmten Situationen, in denen Gedächtnisprobleme auftreten können, zu schärfen. Außerdem hilft es bei der Entwicklung von Fähigkeiten, um entweder das Versagen des Gedächtnisses zu verhindern oder die Gedächtnisprobleme zu kompensieren.

An der kleinen Studie nahmen 47 Brustkrebspatientinnen teil, die im Schnitt die Chemotherapie rund vier Jahre hinter sich hatten. Sie wurden zufällig auf zwei Gruppen verteilt: Die einen absolvierten acht MAAT-Sitzungen, die 30 bis 45 Minuten dauerten, die anderen eine unterstützende Gesprächstherapie über den gleichen Zeitraum. Die Idee hinter der Gesprächstherapie war, die Wirkungen herauszufiltern, die sich durch das Gespräch mit dem Arzt ergaben – dieser diente als „verhaltenstherapeutisches Placebo“.

Beide Behandlungen erfolgten per Videokonferenzen. Alle ehemaligen Brustkrebspatientinnen füllten einen Fragebogen aus, der die Gedächtnisschwierigkeiten und Ängste über den Gedächtnisverlust erfasste. Per Telefon absolvierten sie außerdem neuropsychologische Test zum Sprachgedächtnis, zur Verarbeitungsgeschwindigkeit und Fähigkeit, relativ einfach kognitive Aufgaben automatisch und flüssig auszuführen. Die Gedächtnisleistung der Studienteilnehmerinnen wurde direkt nach der Therapie und zwei Monate später beurteilt.

Nach Verhaltenstherapie – weniger Ängste, besseres Gedächtnis

Die Absolventinnen der MAAT-Therapie hatten deutlich weniger Gedächtnisprobleme und eine schnellere Verarbeitungsgeschwindigkeit als Frauen, die „nur“ eine Gesprächstherapie absolviert hatten. Außerdem hatten sie zwei Monate später weniger Ängste, dass ihr Gedächtnis versagt – allerdings war der Unterschied zwischen beiden Gruppen nicht statistisch signifikant. „Dies ist unseres Wissens die erste Studie mit einer aktiven Kontrollgruppe, die eine Verbesserung der kognitiven Symptome bei Brustkrebspatientinnen mit langfristigen Gedächtnisproblemen beweist“, sagt Ferguson. „Die MAAT-Teilnehmerinnen berichteten von weniger Ängsten und einer hohen Zufriedenheit diesem verhaltenstherapeutischen Ansatz, der ohne Medikamente auskommt“, so der Forscher weiter. MAAT könne auf elektronischem Weg per Videokonferenz erfolgen und den Krebspatienten die vielleicht weite Reise ins nächste Krebszentrum ersparen. Dies ermögliche mehr Patienten, die den Krebs überlebt haben, den Zugang zur Nachsorge. Jetzt wollen die Forscher eine Studie mit einer größeren Patientenzahl und mehr Ärzten durchführen, um herauszufinden, ob sich die Ergebnisse bestätigen lassen.

Chemobrain – wenn das Gedächtnis schlapp macht

Bei Krebspatienten können die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und andere kognitive Funktionen gestört sein, wie zahlreiche Untersuchungen nachgewiesen haben. Lange Zeit führten Mediziner die kognitiven Defizite ausschließlich auf Nebenwirkungen der Chemotherapie zurück – so entstand der Name „Chemobrain“. Allerdings wiesen Forscher das „Chemo-Gehirn“ schon bei Patienten nach, die noch gar keine Chemotherapie begonnen hatten. Als alleinige Ursache für das Chemobrain kommt die Behandlung mit Zytostatika wohl kaum in Frage. Forscher von der LMU München um Kerstin Hermelink wiesen in einer aktuellen Studie mit Brustkrebspatientinnen nach, dass der posttraumatische Stress infolge der Diagnose Krebs für die kognitiven Defizite verantwortlich sein könnte.

Warum Krebspatienten nach einer Chemotherapie Gedächtnisverluste erleiden, ist noch unklar. Manche Forscher bezweifeln, dass es das Chemobrain überhaupt gibt. Wenig erforscht ist außerdem, wie sich kognitiven Defizite verhindern, behandeln oder wieder rückgängig machen lassen.

Quelle: Robert J. Ferguson, Sandra T. Sigmon, Andrew Pritchard, Sharon LaBrie, Rachel Goetze, Christine Fink, and A. Merrill Garrett. A Randomized Trial of Videoconference-Delivered Cognitive-Behavioral Therapy for Breast Cancer Survivors with Self-Reported Cognitive Dysfunction. CANCER; Published Online: May 2, 2016 (DOI: 10.1002/cncr.29891)

Ingrid Müller

Ingrid Müller hat Biologie und Chemie studiert, ist gelernte Journalistin, Buchautorin und schreibt für verschiedene Medien, unter anderem Focus Gesundheit. Sie ist Chefredakteurin des Gesundheitsportals Prostata Hilfe Deutschland, die sich an Männer mit Prostatakrebs richtet. Zudem entwickelt sie digitale Gesundheitsprojekte mit. Zwölf Jahre war sie Chefredakteurin des Gesundheitsportals netdoktor.de